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Pressespiegel

23.12.2009 09:27:50
Land der verlorenen Illusionen
Esslinger Zeitung, 16.12.2009
Scheidungsansage an den Weihnachtsmann: Ein hochkarätiges Musicalkonzert im Stuttgarter Wilhelmatheater


Stuttgart - Man sollte es kaum glauben bei den dümmlichen Udo-Jürgens- und Spaß-Musicals, die uns der deutsche Marktführer Stage Entertainment vorsetzt, aber auch beim Musical gibt es eine Avantgarde - sie kommt nur selten bei uns an. In den USA gilt immer noch der Altmeister Stephen Sondheim mit seinen nachdenklichen, oft bitteren Konzeptmusicals als ihr großer Vordenker, neuere Werke wie „Rent“, „Spring Awakening“ (das Wedekindsche „Frühlings Erwachen“) oder „Next to normal“ greifen Themen wie Aids oder psychische Krankheiten auf, ohne großen Ausstattungsaufwand und in einem Kompositionsstil, der Rock, Folk und Pop zur durchaus dramafähigen Musik erhebt.

Zu den jungen New Yorker Hoffnungsträgern gehört Jason Robert Brown, dessen „Songs for a new world“ jetzt für zwei Abende im Wilhelmatheater zu erleben war, in einer hochkarätigen Produktion mit Hauptdarstellern der beiden Möhringer Musicals, die den Abend auch auf die Beine stellten.

Seit der Liedzyklus 1995 auf CD erschienen ist, gehört er hartnäckig zu den Geheimtipps des Genres. Unter dem Motto der „neuen Welt“ erzählt die Musicalrevue in nicht zusammenhängenden Songs vom Land des American Dream, das gleichzeitig auch das Land der verlorenen Illusionen ist - das Amerika der gebrochenen Psychen und kaputten Beziehungen, das Amerika der Sklaven und Kriege, das Amerika von Tennessee Williams oder Woody Guthrie. Brown schreibt ungewöhnlich intelligente, sensible und oft sozialkritische Texte, der Liederzyklus ist uramerikanisch in seinem balladenhaften Liedermacher-Ton, den Gospel-Anklängen oder den mitreißenden Rock-Rhythmen, die das Scheitern als Chance auf einen Neuanfang umdeuten.

Es gibt traurige Songs wie den von der Frau, die sich immer nur ein Leben voll Sicherheit und Geld gewünscht hat und dann erst merkt, dass ihr die Freiheit fehlt, oder das Lied des gefangenen Sklaven, der einmal König seiner Welt war. Und es gibt brüllend komische Nummern wie die hysterische Szene einer verwöhnten Gattin, die im Penthouse auf dem Fenstersims balanciert, oder die sarkastische Scheidungsansage von Mrs. Santa Claus, deren Mann sich zu Weihnachten nur in den Einkaufspassagen rumtreibt, geschrieben im schönsten Kurt-Weill-Stil samt verbalen Schlägen in die Magengrube.

Hier brillierte Willemijn Verkaik - ansonsten die grüne „Wicked“-Hexe - mit ihrer grandiosen Belt-Stimme und einer so subtilen, spontanen Interpretation, dass ihre nicht minder guten Kollegen David Michael Johnson, Mathias Edenborn und Dominique Aref daneben einfach verblassen mussten.

Mit ein paar sparsam dosierten Tanzschritten und auch sonst minimalistisch, aber ungemein musikalisch hatte ihr Kollege Leon van Leeuwenberg den englisch gesungenen Abend in Szene gesetzt, Hannes Schauz leitete vom Flügel aus die hochklassige Band. Es war die erste Produktion des „New World Musical Ensemble“, und es darf gerne so weitergehen.

Von Angela Reinhardt